Ubi Erat Lupa

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Athen – Turm der Winde

Der achteckige und 13 Meter hohe „Turm“ aus pentelischem Marmor ist das am besten erhaltene antike Bauwerk Griechenlands (Kienast). Er wurde im späten 2. Jh. v. Chr. von einem Andronikos aus Kyrrhos auf damals unverbautem Gelände errichtet. Unter seinem flachen Dach sind in acht Reliefs die Personifikationen von Winden dargestellt und auf dem Gesims darüber deren Namen eingemeißelt. Jeder Wind ist geflügelt, hält ein Attribut und scheint nach rechts zu fliegen. Direkt unter den acht Winden befinden sich acht Sonnenuhren, die präzise auf den Winkel berechnet sind, in dem das Sonnenlicht auf die jeweilige Wand trifft. Damit sind sie das außergewöhnlichste Ensemble dieser Art, das aus der Antike bekannt ist, und bezeugen, wie gut Andronikos die Gesetze der Gnomonik und die ihr zugrunde liegenden astronomischen Phänomene beherrschte.
Eine neunte Sonnenuhr befindet sich auf dem halbrunden Vorbau lupa.at/15792-6 an der Südseite des Turms. Bei ihr diente der etwa 20 cm breite Mauervorsprung unterhalb des Daches als Schattenwerfer. Der Vorbau war ein Wasserbehälter und sammelte vom Nordabhang der Akropolis kommendes Wasser für einen komplexen Hydraulikmechanismus, der sich an Einarbeitungen im Inneren des Turms erkennen lässt. Lange Zeit hielt man den Mechanismus für eine Wasseruhr, bis neuere Untersuchungen wahrscheinlich machten, dass er in Echtzeit die Bewegungen von Sonne, Mond und der damals bekannten fünf Planeten visualisierte – eine Art Planetarium also. Der Turm der Winde könnte daher für Forschungen im Bereich der Astronomie, Philosophie, Mathematik etc. konzipiert gewesen sein, um die Grundzüge der Astronomie zu veranschaulichen. Da die Reste einer Absperrung gefunden wurden und da das Gebäude verschlossen werden konnte, dürfte der Mechanismus wertvoll und zugleich fragil gewesen sein. Das würde den Schluss erlauben, dass der Turm der Winde eher der wissenschaftlichen Elite von Athen gedient hat als der breiten Öffentlichkeit.
Als Gebäude hat der Turm der Winde den Krieg zwischen Sulla und Mithradates VI. überstanden, der am Anfang des Jahres 86 v. Chr. Athen in eine Katastrophe stürzte und mit der Plünderung der Stadt sowie der völligen Vernichtung des Piräus endete. Danach sollte es fast ein dreiviertel Jahrhundert dauern, bis sich Athen von den sullanischen Zerstörungen erholte: Nicht zuletzt aus Verehrung für ihre große Vergangenheit überzog Augustus die Stadt mit einem großzügigen Bauprogramm und errichtete eine neue Agora. Hinter deren zentrumsfernem Ausgang bildeten eine Latrine, das "Marktamt" und eben der Turm der Winde ein eher prosaisches „Servicecenter“ für die Marktbesucher.
Und nun zu dem Mechanismus im Inneren des Turmes. Zu diesem liefern Varro, der größte Gelehrte der Römer, und Vitruv, der größte Architekturschriftsteller der Antike, wichtige Informationen. Denn Varro hat kurz nach der sullanischen Zerstörung in Athen studiert, was deshalb möglich war, weil sein Lehrer Antiochos von Askalon als enger Freund des Lucullus die altehrwürdige Akademie des Platon weiterführen durfte. Es ist daher anzunehmen, dass Varro den Turm der Winde selbst gesehen hat, und zwar Jahrzehnte vor Entstehung der römischen Agora. Bevor er den Turm erwähnt, beschreibt Varro ausführlich eine Voliere, die er auf seinem italischen Landsitz errichtet hatte und in der er die verschiedensten Vogelarten hielt. In ihrem Innerem besaß sie ein sich drehendes hemispherium (Himmelsgewölbe?), das offenbar von Wasser angetrieben wurde und die Stunden anzeigte. Sein hemispherium in Reate bietet Varro den Anlass, auf das horologium in Athen hinzuweisen, in dessen Innerem sich ebenfalls ein Mechanismus drehte, aber nicht um die Stunden, sondern um den gerade wehenden Wind anzuzeigen. Für Varro scheint das athenische horologium so bekannt gewesen zu sein, dass er dessen Konstrukteur nur nach seiner Heimatgemeinde Kyrrhos in Makedonien benennt – Cyrrhestes. Erst von Vitruv, also ein halbes Jahrhundert nach Varro, erfahren wir Genaueres – vielleicht sogar als literarisches Echo auf den Baubeginn der römischen Agora: Der Cyrrhestes hieß mit bürgerlichem Namen Andronikos und der von ihm konstruierte Mechanismus wurde über eine Welle von einem bronzenen Triton gesteuert, der als Windfänger (Anemoskop, Verklicker) auf dem Dach des Turmes montiert war.
Wenn Varro kurz nach der sullanischen Katastrophe das horologium im Turminneren gesehen hat, könnte dieses sogar unversehrt geblieben sein. War dieses auf Initiative Antiochos von Askalon unter den persönlichen Schutz seines Freundes Lucullus gestellt worden? Dass Antiochos kurz darauf zum Leiter der platonischen Akademie ernannt wurde und diese von ihrem angestammten Standort am Stadtrand ins Stadtzentrum verlegen konnte, spräche ebenso dafür wie die Tatsache, dass die Akademie mit dem Tod des Antiochos ihre Tätigkeit einstellte. Wenn seit dem Bau der römischen Agora, die um 10 v. Chr. fertig war, einige Sonnenuhren und vielleicht auch der hydraulische Mechanismus nicht mehr voll funktionierten, dann könnte man annehmen, dass damals der Turm der Winde deshalb nicht mehr genutzt wurde, weil die Akademie als Träger verschwunden war. So plausibel das auch klingen mag, dass der Turm der Winde und die Akademie des Platon zusammengehört haben könnten, wird sich beim gegenwärtigen Wissensstand nicht begründen lassen.

Antike Erwähnungen:
Varro, De re rustica 3.5.17 (1. Jh. v.Chr., über die Voliere in seiner Villa in Rea: …in der Mitte derselben Hemisphäre gibt es um die Achse eine Scheibe von acht Winden, wie in Athen bei dem Horologium, das der Cyrrhestes gebaut hat.
Vitruv, De architectura 1.6.4 (1. Jh. v.Chr.): Vor allem Andronikos aus Kyrrhos, der auch in Athen als Beispiel einen achteckigen, marmornen Turm errichtet und an den einzelnen Seiten des Achtecks ausgemeißelte Darstellungen der einzelnen Winde angebracht hat in der Richtung, aus der jeder einzelne weht. Auf diesem Turm stellte er eine kegelförmige Spitzsäule mit einem bronzenen Triton auf, der mit der rechten Hand einen Stab vorstreckt und so konstruiert ist, dass er durch den Wind umgedreht wurde, sich immer gegen den Wind stellte und den Stab über die Darstellung [des Windes] hielt als Anzeiger, woher der Wind weht.
Cetius Faventinus, De architectura privata 2.2 (3. Jh. n.Chr.): Doch hat neben anderen Andronicus aus Cyrrhus, da er behauptet hatte, dass der Erdkreis von acht Winden beherrscht werde, als Vorbild in Athen einen achteckigen Turm aus Marmor aufgestellt, auf dem er Reliefs der Winde jeweils gegenüber ihrer je eigenen Luftbewegung anordnete. Über diesem Turm stellte er eine Marmorbekrönung auf, platzierte einen Triton aus Bronze und richtete ihn so ein, dass, wenn irgendein Wind ihn anbläst, er sich mit diesem Antrieb um seine Achse dreht, über dem Haupt dieses (Windes) stehen bleibt und – einen Stab in der rechten Hand haltend – zeigt, dass dieser gerade weht.

H. Kienast, Der Turm der Winde in Athen (Wiesbaden 2014).
de.wikipedia.org/wiki/Turm_der_Winde_(Athen)

Rita Gautschy & Ortolf Harl
Basel & Wien 2021